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[Illustration: Umschlagseite] [Illustration: Signet Die Kultur]
SAMMLUNG ILLUSTRIERTER
EINZELDARSTELLUNGEN
HERAUSGEGEBEN VON
CORNELIUS GURLITT
ZEHNTER BAND
[Illustration: Monogramm]
[Illustration: Giorgio Barbarelli :
DIE DREI MORGENLÄNDISCHE WEISEN
Wien: Kaiserliche Gemäldegalerie ]
[Illustration: Titelseite]
DIE KULTUR
KANT UND
GOETHE
VON
GEORG SIMMEL
MIT EINER HELIOGRAVÜRE
UND ZWÖLF VOLLBILDERN
IN TONÄTZUNG
BARD MARQUARDT & CO. BERLIN
HERAUSGEGEBEN
von
CORNELIUS GURLITT
[Illustration: Signet Die Kultur]
Published November 15. 1906. Privilege of Copyright in the
United States reserved under the act approved March 3. 1905 by
Bard, Marquardt & Co. in Berlin
AUGUSTE RODIN
DEM BILDHAUER
ZUGEEIGNET
[Illustration: Ornament]
In die Zustände der Halbkulturen, aber auch in die Kultur vor der
Herrschaft des Christentums pflegen wir die Einheit von Lebenselementen zu
verlegen, die die spätere Entwicklung auseinandergetrieben und zu
Gegensätzen ausgestaltet hat. So hart der Kampf um die physischen
Existenzbedingungen, so unbarmherzig die Vergewaltigung des Individuums
durch die gesellschaftlichen Forderungen gewesen sein mag zu dem Gefühl
einer fundamentalen Spaltung innerhalb des Menschen und innerhalb der
Welt, zwischen dem Menschen und der Welt, scheint es vor dem Verfall der
klassischen Welt nur ganz vereinzelt gekommen zu sein. Das Christentum
erst hat den Gegensatz zwischen dem Geist und dem Fleisch, zwischen dem
natürlichen Sein und den Werten, zwischen dem eigenwilligen Ich und dem
Gott, dem Eigenwille Sünde ist, bis in das Letzte der Seele hinein
empfunden. Aber da es eben Religion war, hat es mit derselben Hand, mit
der es die Entzweiung stiftete, die Versöhnung gereicht. Es mußte erst
seine bedingungslose Macht über die Seelen verlieren, seine Lösung des
Problems mußte erst mit dem Beginn der Neuzeit zweifelhaft geworden sein,
ehe das Problem selbst in seiner ganzen Weite auftrat. Daß der Mensch von
Grund aus ein dualistisches Wesen ist, daß Entzweiung und Gegensatz die
Grundform bildet, in die er die Inhalte seiner Welt aufnimmt, und die
deren ganze Tragik, aber auch ihre ganze Entwicklung und Lebendigkeit
bedingen das hat das Bewußtsein erst nach der Renaissance als seine
Ägide erfaßt. Mit diesem Herabreichen des Gegensatzes in die tiefste und
breiteste Schicht unser und unseres Bildes vom Dasein wird die Forderung
seiner Vereinheitlichung umfassender und heftiger; indem sich das innere
und äußere Leben in sich bis zum Brechen spannt, sucht es nach einem um so
kräftigeren, um so lückenloseren Bande, das über den Fremdheiten der
Seinselemente ihre trotz allem gefühlte Einheit wieder begreiflich mache.
Zunächst ist es das Gegenüber von Subjekt und Objekt, das die Neuzeit zu
schärfstem Gegensatz herausarbeitet. Das denkende Ich fühlt sich souverän
gegenüber der ganzen, von ihm vorgestellten Welt, das: "ich denke, und
also bin ich" wird seit Descartes zur einzigen Unbezweifelbarkeit des
Daseins. Aber andrerseits hat diese objektive Welt doch eine unbarmherzige
Tatsächlichkeit, das Ich erscheint als ihr Produkt, zu der ihre Kräfte
sich nicht anders als zu der Gestalt einer Pflanze oder einer Wolke
verwebt haben. Und so entzweit lebt nicht nur die Welt der Natur, sondern
auch die der Gesellschaft. In ihr fordert der Einzelne das Recht der
Freiheit und Besonderheit, während sie ihn nur als ein Element, das ihren
überpersönlichen Gesetzen untertan ist, anerkennen will... Continue reading book >>