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ÜBER DIE GEOMETRIE DER ALTEN ÆGYPTER
VORTRAG
GEHALTEN IN DER
FEIERLICHEN SITZUNG DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
AM
XXIX. MAI MDCCCLXXXIV
VON
DR. EMIL WEYR
WIRKLICHEM MITGLIEDE DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
WIEN
AUS DER K. K. HOF UND STAATSDRUCKEREI.
IN COMMISSION BEI KARL GEROLD'S SOHN,
BUCHHÄNDLER DER KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
1884
Möge mir gestattet sein, bei dem heutigen feierlichen Anlasse ein Bild zu entrollen, welches in grossen Strichen die allgemeinen Umrisse des Zustandes der geometrischen Wissenschaften bei den alten Aegyptern zur Darstellung bringen soll; und möge dasselbe Wohlwollen, das, gepaart mit einer althergebrachten Sitte, mich heute auf diesen eben so ehrenvollen als schwierigen Platz gestellt, auch bei der Beurtheilung der folgenden bescheidenen, weil schwachen Kräften entspringenden Leistung obwalten!
So wie der Anfang aller menschlichen Kenntnisse, so ist auch der Ursprung der Geometrie in grauestes Alterthum zu versetzen, er ist zu suchen in jenen der Zeit nach unangebbaren Perioden der menschlichen Entwicklung, in welchen das erste Erwachen des Selbstbewusstseins zu finden wäre. Sind doch manche geometrische Anschauungen auch dem Thiere eigen; so jene der geraden Verbindungslinie zweier Punkte als der kürzesten Entfernung; jene des Mehr und Weniger bei Quantitäten der Entfernungen, Höhen, Neigungen, und so werden auch manche abstractere Raumanschauungen dem Menschen in seinen ersten Entwicklungsperioden eigen geworden sein, Anschauungen, welche durch die Möglichkeit und auf Grund der sprachlichen Bezeichnung jene Stabilität erhielten, die sie befähigte, als erste Fundamente der geometrischen Kenntnisse zunächst, und der Geometrie als Wissenschaft später aufzutreten.
Geometrisches Denken entstand zu den verschiedensten Zeiten, an den verschiedensten Orten. Denn überall, wo der menschliche Geist sich zu entwickeln begann, und das menschliche Denken jene Höhe erreichte, auf welcher Abstractionen entstehen, bildeten sich die grundlegenden Raumbegriffe; der des Punktes, der geraden und krummen Linien, der ebenen und krummen Flächen. Denn überall in der Natur boten sich dem erwachenden Menschen Repräsentanten dieser Begriffe in grösserer oder geringerer Genauigkeit dar. Während der Anblick der auf und untergehenden Sonne, sowie des vollen Mondes in südlichen Gegenden fast täglich das Bild der »vollkommensten«, der »schönsten« Linie, der Kreislinie vorführte, stellten sich die zahllosen Sterne des Abends dem Auge als glänzende Punkte dar, welche in ihren mannigfaltigen gegenseitigen Lagenverhältnissen die Phantasie des Menschen bei der, von ihm beliebten Eintheilung des Himmels in Sternbilder zur Herstellung so mancher geraden und krummen Linien verleiten mochten. Und selbst in seiner nächsten Umgebung fand der beobachtende Mensch geometrische Anklänge; das Gewebe der Spinne mit seinen kreisrunden und radialen Fäden, die sechseckige Bienenzelle, die beim Fallen eines Körpers in ruhendes Wasser entstehenden concentrischen Wellenringe, und wie vieles Andere musste, wenn auch nach und nach, so doch mit zwingender Nothwendigkeit den Menschen zur Beobachtung gesetzmässiger geometrischer Formen führen.
Als Mutterland der Mathematik im Allgemeinen, und der Geometrie im Besonderen wird Aegypten angeführt; doch ist die Zeit längst vorbei, wo man sich Aegypten als einzigen Ursprungsort dieser Wissenschaften dachte, vielmehr muss als feststehend angenommen werden, dass jedes Volk in seinem Entwicklungsgange geometrische Anschauungen sich anzueignen schon durch praktische Bedürfnisse gezwungen war... Continue reading book >>