BULEMANNS HAUS beim THEODOR STORM In einer norddeutschen Seestadt, in der sogenannten Duesternstrasse, steht ein altes verfallenes Haus. Es ist nur schmal, aber drei Stockwerke hoch; in der Mitte desselben, vom Boden bis fast in die Spitze des Giebels, springt die Mauer in einem erkerartigen Ausbau vor, welcher fuer jedes Stockwerk nach vorne und an den Seiten mit Fenstern versehen ist, so dass in hellen Naechten der Mond hindurchscheinen kann. Seit Menschengedenken ist niemand in dieses Haus hinein--und niemand herausgegangen; der schwere Messingklopfer an der Haustuer ist fast schwarz von Gruenspan, zwischen den Ritzen der Treppensteine waechst Jahr aus Jahr ein das Gras.--Wenn ein Fremder fragt: "Was ist denn das fuer ein Haus?" so erhaelt er gewiss zur Antwort: "Es ist Bulemanns Haus"; wenn er aber weiter fragt: "Wer wohnt denn darin?" so antworten sie ebenso gewiss: "Es wohnt so niemand darin."--Die Kinder auf den Strassen und die Ammen an der Wiege singen: In Bulemanns Haus, In Bulemanns Haus, Da gucken die Maeuse Zum Fenster hinaus. Und wirklich wollen lustige Brueder, die von naechtlichen Schmaeusen dort vorbeigekommen, ein Gequieke wie von unzaehligen Maeusen hinter den dunklen Fenstern gehoert haben. Einer, der im Uebermut den Tuerklopfer anschlug, um den Widerhall durch die oeden Raeume schallen zu hoeren, behauptet sogar, er habe drinnen auf den Treppen ganz deutlich das Springen grosser Tiere gehoert. "Fast", pflegt er, dies erzaehlend, hinzuzusetzen, "hoerte es sich an wie die Spruenge der grossen Raubtiere, welche in der Menageriebude auf dem Rathausmarkte gezeigt wurden." Das gegenueberstehende Haus ist um ein Stockwerk niedriger, so dass nachts das Mondlicht ungehindert in die oberen Fenster des alten Hauses fallen kann. Aus einer solchen Nacht hat auch der Waechter etwas zu erzaehlen; aber es ist nur ein kleines altes Menschenantlitz mit einer bunten Zipfelmuetze, das er droben hinter den runden Erkerfenstern gesehen haben will. Die Nachbarn dagegen meinen, der Waechter sei wieder einmal betrunken gewesen; sie haetten drueben an den Fenstern niemals etwas gesehen, das einer Menschenseele gleich gewesen. Am meisten Auskunft scheint noch ein alter in einem entfernten Stadtviertel lebender Mann geben zu koennen, der vor Jahren Organist an der St. Magdalenenkirche gewesen ist. "Ich entsinne mich", aeusserte er, als er einmal darueber befragt wurde, "noch sehr wohl des hagern Mannes, der waehrend meiner Knabenzeit allein mit einer alten Weibsperson in jenem Haus wohnte. Mit meinem Vater, der ein Troedler gewesen ist, stand er ein paar Jahre lang in lebhaftem Verkehr, und ich bin derzeit manches Mal mit Bestellungen an ihn geschickt worden. Ich weiss auch noch, dass ich nicht gern diese Wege ging und oft allerlei Ausflucht suchte; denn selbst bei Tage fuerchtete ich mich, dort die schmalen dunkeln Treppen zu Herrn Bulemanns Stube im dritten Stockwerk hinaufzusteigen. Man nannte ihn unter den Leuten den 'Seelenverkaeufer'; und schon dieser Name erregte mir Angst, zumal daneben allerlei unheimlich Gerede ueber ihn im Schwange ging. Er war, ehe er nach seines Vaters Tod das alte Haus bezogen, viele Jahre als Supercargo auf Westindien gefahren. Dort sollte er sich mit einer Schwarzen verheiratet haben; als er aber heimgekommen, hatte man vergebens darauf gewartet, eines Tages auch jene Frau mit einigen dunkeln Kindern anlangen zu sehen. Und bald hiess es, er habe auf der Rueckfahrt ein Sklavenschiff getroffen und an den Kapitaen desselben sein eigen Fleisch und Blut nebst ihrer Mutter um schnoedes Gold verkauft.--Was wahres an solchen Reden gewesen, vermag ich nicht zu sagen", pflegte der Greis hinzuzusetzen; "denn ich will auch einem Toten nicht zu nahe treten; aber so viel ist gewiss, ein geiziger und menschenscheuer Kauz war es; und seine Augen blickten auch, als haetten sie boesen Taten zugesehen. Kein Ungluecklicher und Hilfesuchender durfte seine Schwelle betreten; und wann immer ich damals dort gewesen, stets war von innen die eiserne Kette vor die Tuer gelegt.--Wenn ich dann den schweren Klopfer wiederholt hatte anschlagen muessen, so hoerte ich wohl von der obersten Treppe herab die scheltende Stimme des Hausherrn: Frau Anken! Frau Anken! Ist Sie taub? Hoert Sie nicht, es hat geklopft!' Alsbald liessen sich aus dem Hinterhaus ueber Pesel und Korridor die schlurfenden Schritte des alten Weibes vernehmen. Bevor sie aber oeffnete, fragte sie huestelnd:'Wer ist es denn?' und erst, wenn ich geantwortet hatte:'Es ist der Leberecht!' wurde die Kette drinnen abgehakt. Wenn ich dann hastig die siebenundsiebzig Treppenstufen--denn ich habe sie einmal gezaehlt--hinaufgestiegen war, pflegte Herr Bulemann auf dem kleinen daemmerigen Flur vor seinem Zimmer schon auf mich zu warten; in dieses selbst hat er mich nie hineingelassen. Ich sehe ihn noch, wie er in seinem gelbgebluemten Schlafrock mit der spitzen Zipfelmuetze vor mir stand, mit der einen Hand ruecklings die Klinke seiner Zimmertuer haltend. Waehrend ich mein Gewerbe bestellte, pflegte er mich mit seinen grellen runden Augen ungeduldig anzusehen und mich darauf hart und kurz abzufertigen. Am meisten erregten damals meine Aufmerksamkeit ein paar ungeheuere Katzen, eine gelbe und eine schwarze, die sich mitunter hinter ihm aus seiner Stube draengten und ihre dicken Koepfe an seinen Knieen rieben.--Nach einigen Jahren hoerte indessen der Verkehr mit meinem Vater auf, und ich bin nicht mehr dort gewesen. Dies alles ist nun ueber siebzig Jahre her, und Herr Bulemann muss laengst dahin getragen sein, von wannen niemand wiederkehrt."--Der Mann irrte sich, als er so sprach. Herr Bulemann ist nicht aus seinem Haus getragen worden; er lebt darin noch jetzt. Das aber ist so zugegangen. Vor ihm, dem letzten Besitzer, noch um die Zopf--und Haarbeutelzeit, wohnte in jenem Haus ein Pfandverleiher, ein altes verkruemmtes Maennchen. Da er sein Gewerbe mit Umsicht seit ueber fuenf Jahrzehnten betrieben hatte und mit einem Weib, das ihm seit dem Tod seiner Frau die Wirtschaft fuehrte, aufs spaerlichste lebte, so war er endlich ein reicher Mann geworden. Dieser Reichtum bestand aber zumeist in einer fast unuebersehbaren Menge von Pretiosen, Geraeten und seltsamstem Troedelkram, was er alles von Verschwendern oder Notleidenden im Laufe der Jahre als Pfand erhalten hatte und das dann, da die Rueckzahlung des darauf gegebenen Darlehens nicht erfolgte, in seinem Besitz zurueckgeblieben war.--Da er bei einem Verkauf dieser Pfaender, welcher gesetzlich durch die Gerichte geschehen musste, den Ueberschuss des Erloeses an die Eigentuemer haette herausgeben muessen, so haeufte er sie lieber in den grossen Nussbaumschraenken auf, mit denen zu diesem Zwecke nach und nach die Stuben des ersten und endlich auch des zweiten Stockwerks besetzt wurden. Nachts aber, wenn Frau Anken im Hinterhaus in ihrem einsamen Kaemmerchen schnarchte und die schwere Kette vor der Haustuer lag, stieg er oft mit leisen Tritt die Treppen auf und ab. In seinen hechtgrauen Rockelor eingeknoepft, in der einen Hand die Lampe, in der andern das Schluesselbund, oeffnete er bald im ersten, bald im zweiten Stockwerk die Stuben- und die Schranktueren, nahm hier eine goldene Repetieruhr, dort eine emaillierte Schnupftabaksdose aus dem Versteck hervor und berechnete bei sich die Jahre ihres Besitzes und ob die urspruenglichen Eigentuemer dieser Dinge wohl verkommen und verschollen seien oder ob sie noch einmal mit dem Geld in der Hand wiederkehren und ihre Pfaender zurueckfordern koennten. Der Pfandverleiher war endlich im aeussersten Greisenalter von seinen Schaetzen weggestorben und hatte das Haus nebst den vollen Schraenken seinem einzigen Sohn hinterlassen muessen, den er waehrend seines Lebens auf jede Weise daraus fern zu halten gewusst hatte. Dieser Sohn war der von dem kleinen Leberecht so gefuerchtete Supercargo, welcher eben von einer ueberseeischen Fahrt in seine Vaterstadt zurueckgekehrt war. Nach dem Begraebnis des Vaters gab er seine frueheren Geschaefte auf und bezog dessen Zimmer im dritten Stock des alten Erkerhauses, wo nun statt des verkruemmten Maennchens im hechtgrauen Rockelor eine lange hagere Gestalt im gelbgebluemten Schlafrock und bunter Zipfelmuetze auf und ab wandelte oder rechnend an dem kleinen Pulte des Verstorbenen stand. Auf Herrn Bulemann hatte sich indessen das Behagen des alten Pfandverleihers an den aufgehaeuften Kostbarkeiten nicht vererbt. Nachdem er bei verriegelten Tueren den Inhalt der grossen Nussbaumschraenke untersucht hatte, ging er mit sich zu Rate, ob er den heimlichen Verkauf dieser Dinge wagen solle, die immer noch das Eigentum anderer waren und an deren Wert er nur auf Hoehe der ererbten und, wie die Buecher ergaben, meist sehr geringen Darlehnsforderung einen Anspruch hatte. Aber Herr Bulemann war keiner von den Unentschlossenen. Schon in wenigen Tagen war die Verbindung mit einem in der aeussersten Vorstadt wohnenden Troedler angeknuepft, und nachdem man einige Pfaender aus den letzten Jahren zurueckgesetzt hatte, wurde heimlich und vorsichtig der bunte Inhalt der grossen Nussbaumschraenke in gediegene Silbermuenzen umgewandelt. Das war die Zeit, wo der Knabe Leberecht ins Haus gekommen war. Das geloeste Geld tat Herr Bulemann in grosse eisenbeschlagene Kasten, welche er nebeneinander in seine Schlafkammer setzen liess; denn bei der Rechtlosigkeit seines Besitzes wagte er nicht, es auf Hypotheken auszutun oder sonst oeffentlich anzulegen. Als alles verkauft war, machte er sich daran, saemtliche fuer die moegliche Zeit seines Lebens denkbare Ausgaben zu berechnen. Er nahm dabei ein Alter von neunzig Jahren in Ansatz und teilte dann das Geld in einzelne Paeckchen je fuer eine Woche, indem er auf jedes Quartal noch ein Roellchen fuer unvorhergesehene Ausgaben dazulegte. Dieses Geld wurde fuer sich in einen Kasten gelegt, welcher nebenan in dem Wohnzimmer stand; und alle Sonnabendmorgen erschien Frau Anken, die alte Wirtschafterin, die er aus der Verlassenschaft seines Vaters mit uebernommen hatte, um ein neues Paeckchen in Empfang zu nehmen und ueber die Verausgabung des vorigen Rechenschaft zu geben. Wie schon erzaehlt, hatte Herr Bulemann Frau und Kinder nicht mitgebracht; dagegen waren zwei Katzen von besonderer Groesse, eine gelbe und eine schwarze, am Tage nach der Beerdigung des alten Pfandverleihers durch einen Matrosen in einem fest zugebundenen Sack vom Bord des Schiffes ins Haus getragen worden. Diese Tiere waren bald die einzige Gesellschaft ihres Herrn. Sie erhielten mittags ihre eigene Schuessel, die Frau Anken unter verbissenem Ingrimm Tag aus und ein fuer sie bereiten musste; nach dem Essen, waehrend Herr Bulemann sein kurzes Mittagsschlaefchen abtat, sassen sie gesaettigt neben ihm auf dem Kanapee, liessen ein Laeppchen Zunge hervorhaengen und blinzelten ihn schlaefrig aus ihren gruenen Augen an. Waren sie in den unteren Raeumen des Hauses auf der Mausjagd gewesen, was ihnen indessen immer einen heimlichen Fusstritt von dem alten Weib eintrug, so brachten sie gewiss die gefangenen Maeuse zuerst ihrem Herrn im Maule hergeschleppt und zeigten sie ihm, ehe sie unter das. Kanapee krochen und sie verzehrten. War dann die Nacht gekommen und hatte Herr Bulemann die bunte Zipfelmuetze mit einer weissen vertauscht, so begab er sich mit seinen beiden Katzen in das grosse Gardinenbett im Nebenkaemmerchen, wo er sich durch das gleichmaessige Spinnen der zu seinen Fuessen eingewuehlten Tiere in den Schlaf bringen liess. Dieses friedliche Leben war indes nicht ohne Stoerung geblieben. Im Laufe der ersten Jahre waren dennoch einzelne Eigentuemer der verkauften Pfaender gekommen und hatten gegen Rueckzahlung des darauf erhaltenen Suemmchens die Auslieferung ihrer Pretiosen verlangt. Und Herr Bulemann, aus Furcht vor Prozessen, wodurch sein Verfahren in die Oeffentlichkeit haette kommen koennen, griff in seine grossen Kasten und erkaufte sich durch groessere oder kleinere Abfindungssummen das Schweigen der Beteiligten. Das machte ihn noch menschenfeindlicher und verbissener. Der Verkehr mit dem alten Troedler hatte laengst aufgehoert; einsam sass er auf seinem Erkerstuebchen mit der Loesung eines schon oft gesuchten Problems, der Berechnung eines sichern Lotteriegewinnes, beschaeftigt, wodurch er dermaleinst seine Schaetze ins Unermessliche zu vermehren dachte. Auch Graps und Schnores, die beiden grossen Kater, hatten jetzt unter seiner Laune zu leiden. Hatte er sie in dem einen Augenblick mit seinen langen Fingern getaetschelt, so konnten sie sich im andern, wenn etwa die Berechnung auf den Zahlentafeln nicht stimmen sollte, eines Wurfs mit dem Sandfass oder der Papierschere versehen, so dass sie heulend in die Ecke hinkten. Herr Bulemann hatte eine Verwandte, eine Tochter seiner Mutter aus erster Ehe, welche indessen schon bei dem Tod dieser wegen ihrer Erbansprueche abgefunden war und daher an die von ihm ererbten Schaetze keine Ansprueche hatte. Er kuemmerte sich jedoch nicht um diese Halbschwester, obgleich sie in einem Vorstadtviertel in den duerftigsten Verhaeltnissen lebte; denn noch weniger als mit anderen Menschen liebte Herr Bulemann den Verkehr mit duerftigen Verwandten. Nur einmal, als sie kurz nach dem Tod ihres Mannes in schon vorgeruecktem Alter ein kraenkliches Kind geboren hatte, war sie Hilfe suchend zu ihm gekommen. Frau Anken, die sie eingelassen, war horchend unten auf der Treppe sitzen geblieben, und bald hatte sie von oben die scharfe Stimme ihres Herrn gehoert, bis endlich die Tuer aufgerissen worden und die Frau weinend die Treppe herabgekommen war. Noch an demselben Abend hatte Frau Anken die strenge Weisung erhalten, die Kette fuerderhin nicht von der Haustuer zu ziehen, falls etwa die Christine noch einmal wiederkommen sollte. Die Alte begann sich immer mehr vor der Hakennase und den grellen Eulenaugen ihres Herrn zu fuerchten. Wenn er oben am Treppengelaender ihren Namen rief oder auch, wie er es vom Schiff her gewohnt war, nur einen schrillen Pfiff auf seinen Fingern tat, so kam sie gewiss, in welchem Winkel sie auch sitzen mochte, eiligst hervorgekrochen und stieg stoehnend, Schimpf- und Klageworte vor sich herplappernd, die schmalen Treppen hinauf. Wie aber in dem dritten Stockwerk Herr Bulemann, so hatte in den unteren Zimmern Frau Anken ihre ebenfalls nicht ganz rechtlich erworbenen Schaetze aufgespeichert. Schon in dem ersten Jahr ihres Zusammenlebens war sie von einer Art kindischer Angst befallen worden, ihr Herr koenne einmal die Verausgabung des Wirtschaftsgeldes selbst uebernehmen, und sie werde dann bei dem Geiz desselben noch auf ihre alten Tage Not zu leiden haben. Um dieses abzuwenden, hatte sie ihm vorgelegen, der Weizen sei aufgeschlagen, und demnaechst die entsprechende Mehrsumme fuer den Brotbedarf gefordert. Der Supercargo, der eben seine Lebensrechnung begonnen, hatte scheltend seine Papiere zerrissen und darauf seine Rechnung von vom wieder aufgestellt und den Wochenrationen die verlangte Summe zugesetzt. Frau Anken aber, nachdem sie ihren Zweck erreicht, hatte zur Schonung ihres Gewissens und des Sprichwortes gedenkend: "Geschleckt ist nicht gestohlen", nun nicht die ueberschuessig empfangenen Schillinge, sondern regelmaessig nur die dafuer gekauften Weizenbroetchen unterschlagen, mit denen sie, da Herr Bulemann niemals die unteren Zimmer betrat, nach und nach die ihres kostbaren Inhalts beraubten grossen Nussbaumschraenke anfuellte. So mochten etwa zehn Jahre verflossen sein. Herr Bulemann wurde immer hagerer und grauer, sein gelbgebluemter Schlafrock immer fadenscheiniger. Dabei vergingen oft Tage, ohne dass er den Mund zum Sprechen geoeffnet haette; denn er sah keine lebenden Wesen als die beiden Katzen und seine alte halb kindische Haushaelterin. Nur mitunter, wenn er hoerte, dass unten die Nachbarskinder auf den Prellsteinen vor seinem Haus ritten, steckte er den Kopf ein wenig aus dem Fenster und schalt mit seiner scharfen Stimme in die Gasse hinab. "Der Seelenverkaeufer, der Seelenverkaeufer!" schrieen dann die Kinder und stoben auseinander. Herr Bulemann aber fluchte und schimpfte noch ingrimmiger, bis er endlich schmetternd das Fenster zuschlug und drinnen Graps und Schnores seinen Zorn entgelten liess. Um jede Verbindung mit der Nachbarschaft auszuschliessen, musste Frau Anken schon seit geraumer Zeit ihre Wirtschaftseinkaeufe in entlegenen Strassen machen. Sie durfte jedoch erst mit dem Eintritt der Dunkelheit ausgehen und musste dann die Haustuer hinter sich verschliessen. Es mochte acht Tage vor Weihnachten sein, als die Alte wiederum eines Abends zu solchem Zwecke das Haus verlassen hatte. Trotz ihrer sonstigen Sorgfalt musste sie sich indessen diesmal einer Vergessenheit schuldig gemacht haben. Denn als Herr Bulemann eben mit dem Schwefelholz sein Talglicht angezuendet hatte, hoerte er zu seiner Verwunderung es draussen auf den Stiegen poltern, und als er mit vorgehaltenem Licht auf den Flur hinaustrat, sah er seine Halbschwester mit einem bleichen Knaben vor sich stehen. "Wie seid ihr ins Haus gekommen?" herrschte er sie an, nachdem er sie einen Augenblick erstaunt und ingrimmig angestarrt hatte. "Die Tuer war offen unten", sagte die Frau schuechtern. Er murmelte einen Fluch auf seine Wirtschafterin zwischen den Zaehnen. "Was willst du?" fragte er dann. "Sei doch nicht so hart, Bruder", bat die Frau, "ich habe sonst nicht den Mut zu dir zu sprechen." "Ich wuesste nicht, was du mit mir zu sprechen haettest; du hast dein Teil bekommen; wir sind fertig miteinander." Die Schwester stand schweigend vor ihm und suchte vergebens nach dem rechten Worte. Drinnen wurde wiederholt ein Kratzen an der Stubentuer vernehmbar. Als Herr Bulemann zurueckgelangt und die Tuer geoeffnet hatte, sprangen die beiden grossen Katzen auf den Flur hinaus und strichen spinnend an dem blassen Knaben herum, der sich furchtsam vor ihnen an die Wand zurueckzog. Ihr Herr betrachtete ungeduldig die noch immer schweigend vor ihm stehende Frau. "Nun, wird's bald?" fragte er. "Ich wollte dich um etwas bitten, Daniel", hub sie endlich an. "Dein Vater hat ein paar Jahre vor seinem Tod, da ich in bitterster Not war, ein silbern Becherlein von mir in Pfand genommen." "Mein Vater von dir?" fragte Herr Bulemann. "Ja, Daniel, dein Vater; der Mann von unser beiden Mutter. Hier ist der Pfandschein; er hat mir nicht zu viel darauf gegeben." "Weiter!" sagte Herr Bulemann, der mit raschem Blick die leeren Haende seiner Schwester gemustert hatte. "Vor einiger Zeit", fuhr sie zaghaft fort, "traeumte mir, ich gehe mit meinem kranken Kind auf dem Kirchhof. Als wir an das Grab unserer Mutter kamen, sass sie auf ihrem Grabstein unter einem Busch voll bluehender weisser Rosen. Sie hatte jenen kleinen Becher in der Hand, den ich einst als Kind von ihr geschenkt erhalten; als wir aber naeher gekommen waren, setzte sie ihn an die Lippen; und indem sie dem Knaben laechelnd zunickte, hoerte ich sie deutlich sagen: 'Zur Gesundheit!' Es war ihre sanfte Stimme, Daniel, wie im Leben; und diesen Traum habe ich drei Naechte nacheinander getraeumt." "Was soll das?" fragte Herr Bulemann. "Gib mir den Becher zurueck, Bruder! Das Christfest ist nahe; leg ihn dem kranken Kind auf seinen leeren Weihnachtsteller!" Der hagere Mann in seinem gelbgebluemten Schlafrock stand regungslos vor ihr und betrachtete sie mit seinen grellen runden Augen. "Hast du das Geld bei dir?" fragte er. "Mit Traeumen loest man keine Pfaender ein." "O, Daniel!" rief sie, "glaub unserer Mutter! Er wird gesund, wenn er aus dem kleinen Becher trinkt. Sei barmherzig; er ist ja doch von deinem Blut!" Sie hatte die Haende nach ihm ausgestreckt; aber er trat einen Schritt zurueck. "Bleib mir vom Leibe", sagte er. Dann rief er nach seinen Katzen. "Graps, alte Bestie! Schnores, mein Soehnchen!" Und der grosse gelbe Kater sprang mit einem Satz auf den Arm seines Herrn und kauerte mit seinen Krallen in der bunten Zipfelmuetze, waehrend das schwarze Tier an seinen Knieen hinaufstrebte. Der kranke Knabe war naeher geschlichen. "Mutter", sagte er, indem er sie heftig an dem Kleid zupfte, "ist das der boese Ohm, der seine schwarzen Kinder verkauft hat?" Aber in demselben Augenblick hatte auch Herr Bulemann die Katze herabgeworfen und den Arm des aufschreienden Knaben ergriffen. "Verfluchte Bettelbrut", rief er, "pfeifst du auch das tolle Lied!" "Bruder, Bruder!" jammerte die Frau.--Doch schon lag der Knabe wimmernd drunten auf dem Treppenabsatz. Die Mutter sprang ihm nach und nahm ihn sanft auf ihren Arm; dann aber richtete sie sich hoch auf, und den blutenden Kopf des Kindes an ihrer Brust, erhob sie die geballte Faust gegen ihren Bruder, der zwischen seinen spinnenden Katzen droben am Treppengelaender stand: "Verruchter, boeser Mann!" rief sie. "Moegest du verkommen bei deinen Bestien!" "Fluche, so viel du Lust hast!" erwiderte der Bruder; "aber mach, dass du aus dem Haus kommst." Dann, waehrend das Weib mit dem weinenden Knaben die dunklen Treppen hinabstieg, lockte er seine Katzen und klappte die Stubentuer hinter sich zu.--Er bedachte nicht, dass die Flueche der Armen gefaehrlich sind, wenn die Hartherzigkeit der Reichen sie hervorgerufen hat. Einige Tage spaeter trat Frau Anken, wie gewoehnlich, mit dem Mittagessen in die Stube ihres Herrn. Aber sie kniff heute noch mehr als sonst mit den duennen Lippen, und ihre kleinen bloeden Augen leuchteten vor Vergnuegen. Denn sie hatte die harten Worte nicht vergessen, die sie wegen ihrer Nachlaessigkeit an jenem Abend hatte hinnehmen muessen, und sie dachte sie ihm jetzt mit Zinsen wieder heimzuzahlen. "Habt Ihr's denn auf St. Magdalenen laeuten hoeren?" fragte sie. "Nein", erwiderte Herr Bulemann kurz, der ueber seinen Zahlentafeln sass. "Wisst Ihr denn wohl, wofuer es gelaeutet hat?" fragte die Alte weiter. "Dummes Geschwaetz! Ich hoere nicht nach dem Gebimmel." "Es war aber doch fuer Euern Schwestersohn!" Herr Bulemann legte die Feder hin. "Was schwatzest du, Alte?" "Ich sage", erwiderte sie, "dass sie soeben den kleinen Christoph begraben haben." Herr Bulemann schrieb schon wieder weiter. "Warum erzaehlst du mir das? Was geht mich der Junge an?" "Nun, ich dachte nur; man erzaehlt ja wohl, was Neues in der Stadt passiert." Als sie gegangen war, legte aber doch Herr Bulemann die Feder wieder fort und schritt, die Haende auf dem Ruecken, eine lange Zeit in seinem Zimmer auf und ab. Wenn unten auf der Gasse ein Geraeusch entstand, trat er hastig ans Fenster, als erwarte er schon den Stadtdiener eintreten zu sehen, der ihn wegen der Misshandlung des Knaben vor den Rat zitieren solle. Der schwarze Graps, der mauzend seinen Anteil an der aufgetragenen Speise verlangte, erhielt einen Fusstritt, dass er schreiend in die Ecke flog. Aber, war es nun der Hunger, oder hatte sich unversehens die sonst so unterwuerfige Natur des Tieres veraendert, er wandte sich gegen seinen Herrn und fuhr fauchend und prustend auf ihn los. Herr Bulemann gab ihm einen zweiten Fusstritt. "Fresst", sagte er. "Ihr braucht nicht auf mich zu warten." Mit einem Satz waren die beiden Katzen an der vollen Schuessel, die er ihnen auf den Fussboden gesetzt hatte. Dann aber geschah etwas Seltsames. Als der gelbe Schnores, der zuerst seine Mahlzeit beendet hatte, nun in der Mitte des Zimmers stand, sich reckte und buckelte, blieb Herr Bulemann ploetzlich vor ihm stehen; dann ging er um das Tier herum und betrachtete es von allen Seiten. "Schnores, alter Halunke, was ist denn das?" sagte er, den Kopf des Katers kraulend. "Du bist ja noch gewachsen in deinen alten Tagen!" In diesem Augenblick war auch die andere Katze hinzugesprungen. Sie straeubte ihren glaenzenden Pelz und stand dann hoch auf ihren schwarzen Beinen. Herr Bulemann schob sich die bunte Zipfelmuetze aus der Stirn. "Auch der!" murmelte er. "Seltsam, es muss in der Sorte liegen." Es war indes daemmerig geworden, und da niemand kam und ihn beunruhigte, so setzte er sich zu den Schuesseln, die auf dem Tisch standen. Endlich begann er sogar seine grossen Katzen, die neben ihm auf dem Kanapee sassen, mit einem gewissen Behagen zu beschauen. "Ein paar stattliche Burschen seid ihr!" sagte er, ihnen zunickend. "Nun soll euch das alte Weib unten auch die Ratten nicht mehr vergiften!"--Als er aber abends nebenan in seine Schlafkammer ging, liess er sie nicht, wie sonst, zu sich herein; und als er sie nachts mit den Pfoten gegen die Kammertuer fallen und mauzend daran herunterrutschen hoerte, zog er sich das Deckbett ueber beide Ohren und dachte: "Mauzt nur zu, ich habe eure Krallen gesehen."-Dann kam der andere Tag, und als es Mittag geworden, geschah dasselbe, was tags zuvor geschehen war. Von der geleerten Schuessel sprangen die Katzen mit einem schweren Satz mitten ins Zimmer herein, reckten und streckten sich; und als Herr Bulemann, der schon wieder ueber seinen Zahlentafeln sass, einen Blick zu ihnen hinueberwarf, stiess er entsetzt seinen Drehstuhl zurueck und blieb mit ausgerecktem Halse stehen. Dort mit leisem Winseln, als wenn ihnen etwas Boeses angetan wuerde, standen Graps und Schnores zitternd mit geringelten Schwaenzen, das Haar gestraeubt; er sah es deutlich, sie dehnten sich, sie wurden gross und groesser. Noch einen Augenblick stand er, die Haende an den Tisch geklammert; dann ploetzlich schritt er an den Tieren vorbei und riss die Stubentuer auf. "Frau Anken, Frau Anken!" rief er, und da sie nicht gleich zu hoeren schien, tat er einen Pfiff auf seinen Fingern, und bald schlurfte auch die Alte unten aus dem Hinterhaus hervor und keuchte eine Treppe nach der andern herauf. "Sehen Sie sich einmal die Katzen an!" rief er, als sie ins Zimmer getreten war. "Die hab? ich schon oft gesehen, Herr Bulemann." "Sieht Sie daran denn nichts?" "Dass ich nicht wuesste, Herr Bulemann!" erwiderte sie, mit ihren bloeden Augen um sich blinzelnd. "Was sind denn das fuer Tiere? Das sind ja gar keine Katzen mehr!" Er packte die Alte an den Armen und rannte sie gegen die Wand. "Rotaeugige Hexe!" schrie er, "bekenne, was hast du meinen Katzen eingebraut!" Das Weib klammerte ihre knoechernen Haende ineinander und begann unverstaendliche Gebete herzuplappern. Aber die furchtbaren Katzen sprangen von rechts und links auf die Schultern ihres Herrn und leckten ihn mit ihren scharfen Zungen ins Gesicht. Da musste er die Alte loslassen. Fortwaehrend plappernd und huestelnd schlich sie aus dem Zimmer und kroch die Treppen hinab. Sie war wie verwirrt; sie fuerchtete sich, ob mehr vor ihrem Herrn oder vor den grossen Katzen, das wusste sie selber nicht. So kam sie hinten in ihre Kammer. Mit zitternden Haenden holte sie einen mit Geld gefaellten Strumpf aus ihrem Bett hervor; dann nahm sie aus einer Lade eine Anzahl alter Roecke und Lumpen und wickelte sie um ihren Schatz herum, so dass es endlich ein grosses Buendel gab. Denn sie wollte fort, um jeden Preis fort; sie dachte an die arme Halbschwester ihres Herrn draussen in der Vorstadt; die war immer freundlich gegen sie gewesen, zu der wollte sie. Freilich, es war ein weiter Weg, durch viele Gassen, ueber viele schmale und lange Bruecken, welche ueber dunkle Graeben und Flethen hinwegfuehrten, und draussen daemmerte schon der Winterabend. Es trieb sie dennoch fort. Ohne an ihre Tausende von Weizenbroetchen zu denken, die sie in kindischer Fuersorge in den grossen Nussbaumschraenken aufgehaeuft hatte, trat sie mit ihrem schweren Buendel auf dem Nacken aus dem Hause. Sorgfaeltig mit dem grossen krausen Schluessel verschloss sie die schwere eichene Tuer, steckte ihn in ihre Ledertasche und ging dann keuchend in die finstere Stadt hinaus. Frau Anken ist niemals wiedergekommen, und die Tuer von Bulemanns Haus ist niemals wieder aufgeschlossen worden. Noch an demselben Tag aber, da sie fortgegangen, hat ein junger Taugenichts, der den Knecht Ruprecht spielend in den Haeusern umherlief, mit Lachen seinen Kameraden erzaehlt, da er in seinem rauhen Pelze ueber die Crescentiusbruecke gegangen sei, habe er ein altes Weib dermassen erschreckt, dass sie mit ihrem Buendel wie toll in das schwarze Wasser hinabgesprungen sei. Auch ist in der Fruehe des andern Tages in der aeussersten Vorstadt die Leiche eines alten Weibes, welche an einem grossen Buendel festgebunden war, von den Waechtern aufgefischt und bald darauf, da niemand sie gekannt hat, auf dem Armenviertel des dortigen Kirchhofs in einem platten Sarge eingegraben worden. Dieser andere Morgen war der Morgen des Weihnachtsabends. Herr Bulemann hatte eine schlechte Nacht gehabt; das Kratzen und Arbeiten der Tiere gegen seine Kammertuer hatte ihm diesmal keine Ruhe gelassen; erst gegen die Morgendaemmerung war er in einen langen, bleiernen Schlaf gefallen. Als er endlich seinen Kopf mit der Zipfelmuetze in das Wohnzimmer hineinsteckte, sah er die beiden Katzen laut schnurrend mit unruhigen Schritten umeinander hergehen. Es war schon nachmittag; die Wanduhr zeigte auf eins. "Sie werden Hunger haben, die Bestien", murmelte er. Dann oeffnete er die Tuer nach dem Flur und pfiff nach der Alten. Zugleich aber draengten die Katzen sich hinaus und rannten die Treppe hinab, und bald hoerte er von unten aus der Kueche herauf Springen und Tellergeklapper. Sie mussten auf den Schrank gesprungen sein, auf den Frau Anken die Speisen fuer den andern Tag zurueckzusetzen pflegte. Herr Bulemann stand oben an der Treppe und rief laut und scheltend nach der Alten; aber nur das Schweigen antwortete ihm oder von unten herauf aus den Winkeln des alten Hauses ein schwacher Widerhall. Schon schlug er die Schoesse seines gebluemten Schlafrocks uebereinander und wollte selbst hinabsteigen, da polterte es drunten auf den Stiegen, und die beiden Katzen kamen wieder heraufgerannt. Aber das waren keine Katzen mehr; das waren zwei furchtbare, namenlose Raubtiere. Die stellten sich gegen ihn, sahen ihn mit ihren glimmenden Augen an und stiessen ein heiseres Geheul aus. Er wollte an ihnen vorbei, aber ein Schlag mit der Tatze, der ihm einen Fetzen aus dein Schlafrock riss, trieb ihn zurueck. Er lief ins Zimmer; er wollte ein Fenster aufreissen, um die Menschen auf der Gasse anzurufen; aber die Katzen sprangen hintendrein und kamen ihm zuvor. Grimmig schnurrend, mit erhobenem Schweif, wanderten sie vor den Fenstern auf und ab. Herr Bulemann rannte auf den Flur hinaus und warf die Zimmertuer hinter sich zu; aber die Katzen schlugen mit der Tatze auf die Klinke und standen schon vor ihm an der Treppe. Wieder floh er ins Zimmer zurueck, und wieder waren die Katzen da. Schon verschwand der Tag, und die Dunkelheit kroch in alle Ecken. Tief unten von der Gasse herauf hoerte er Gesang; Knaben und Maedchen zogen von Haus zu Haus und sangen Weihnachtslieder. Sie gingen in alle Tueren; er stand und horchte. Kam denn niemand in seine Tuer?--Aber er wusste es ja, er hatte sie selber alle fortgetrieben; es klopfte niemand, es ruettelte niemand an der verschlossenen Haustuer. Sie zogen vorueber; und allmaehlich war es still, totenstill auf der Gasse. Und wieder suchte er zu entrinnen; er wollte Gewalt anwenden; er rang mit den Tieren, er liess sich Gesicht und Haende blutig reissen. Dann wieder wandte er sich zur List; er rief sie mit den alten Schmeichelnamen, er strich ihnen die Funken aus dem Pelz und wagte es sogar, ihren flachen Kopf mit den grossen weissen Zaehnen zu kraulen. Sie warfen sich auch vor ihm hin und waelzten sich schnurrend zu seinen Fuessen; aber wenn er den rechten Augenblick gekommen glaubte und aus der Tuer schluepfte, so sprangen sie auf und standen, ihr heiseres Geheul ausstossend, vor ihm.--So verging die Nacht, so kam der Tag, und noch immer rannte er zwischen der Treppe und den Fenstern seines Zimmers hin und her, die Haende ringend, keuchend, das graue Haar zerzaust. Und noch zwei Mal wechselten Tag und Nacht; da endlich warf er sich gaenzlich erschoepft, an allen Gliedern zuckend, auf das Kanapee. Die Katzen setzten sich ihm gegenueber und blinzelten ihn schlaefrig aus halbgeschlossenen Augen an. Allmaehlich wurde das Arbeiten seines Leibes weniger und endlich hoerte es ganz auf. Eine fahle Blaesse ueberzog unter den Stoppeln des grauen Bartes sein Gesicht; noch einmal aufseufzend, streckte er die Arme und spreizte die langen Finger ueber die Kniee; dann regte er sich nicht mehr. Unten in den oeden Raeumen war es indessen nicht ruhig gewesen. Draussen an der Tuer des Hinterhauses, die auf den engen Hof hinausfuehrt, geschah ein emsiges Nagen und Fressen. Endlich entstand ueber der Schwelle eine Oeffnung, die groesser und groesser wurde; ein grauer Mauskopf draengte sich hindurch, dann noch einer, und bald huschte eine ganze Schar von Maeusen ueber den Flur und die Treppe hinauf in den ersten Stock. Hier begann das Arbeiten aufs neue an der Zimmertuer, und als diese durchnagt war, kamen die grossen Schraenke daran, in denen Frau Ankens hinterlassene Schaetze aufgespeichert lagen. Da war ein Leben wie im Schlaraffenland; wer durch wollte, musste sich durchfressen. Und das Geziefer fuellte sich den Wanst; und wenn es mit dem Fressen nicht mehr fort wollte, rollte es die Schwaenze auf und hielt sein Schlaefchen in den hohlgefressenen Weizenbroetchen. Nachts kamen sie hervor, huschten ueber die Dielen oder sassen, ihre Pfoetchen leckend, vor dem Fenster und schauten, wenn der Mond schien, mit ihren kleinen blanken Augen in die Gasse hinab. Aber diese behagliche Wirtschaft sollte bald ihr Ende erreichen. In der dritten Nacht, als eben droben Herr Bulemann seine Augen zugetan hatte, polterte es draussen auf den Stiegen. Die grossen Katzen kamen herabgesprungen, oeffneten mit einem Schlag ihrer Tatze die Tuer des Zimmers und begannen ihre Jagd. Da hatte alle Herrlichkeit ein Ende. Quieksend und pfeifend rannten die fetten Maeuse umher und strebten ratlos an den Waenden hinauf. Es war vergebens; sie verstummten eine nach der andern zwischen den zermalmenden Zaehnen der beiden Raubtiere. Dann wurde es still, und bald war in dem ganzen Haus nichts vernehmbar als das leise Spinnen der grossen Katzen, die mit ausgestreckten Tatzen droben vor dem Zimmer ihres Herrn lagen und sich das Blut aus den Baerten leckten. Unten in der Haustuer verrostete das Schloss, den Messingklopfer ueberzog der Gruenspan, und zwischen den Treppensteinen begann das Gras zu wachsen. Draussen aber ging die Welt unbekuemmert ihren Gang. Als der Sommer gekommen war, stand auf dem St. Magdalenenkirchhof auf dem Grab des kleinen Christoph ein bluehender weisser Rosenbusch; und bald lag auch ein kleiner Denkstein unter demselben. Den Rosenbusch hatte seine Mutter ihm gepflanzt; den Stein freilich hatte sie nicht beschaffen koennen. Aber Christoph hatte einen Freund gehabt; es war ein junger Musikus, der Sohn eines Troedlers, der in dem Haus ihnen gegenueber wohnte. Zuerst hatte er sich unter sein Fenster geschlichen, wenn der Musiker drinnen am Klavier sass; spaeter hatte dieser ihn zuweilen in die Magdalenenkirche genommen, wo er sich nachmittags im Orgelspiel zu ueben pflegte. Da sass denn der blasse Knabe auf einem Schemelchen zu seinen Fuessen, lehnte lauschend den Kopf an die Orgelbank und sah, wie die Sonnenlichter durch die Kirchenfenster spielten. Wenn der junge Musikus dann, von der Verarbeitung seines Themas fortgerissen, die tiefen maechtigen Register durch die Gewoelbe brausen liess, oder wenn er mitunter den Tremulanten zog und die Toene wie zitternd vor der Majestaet Gottes dahinfluteten, so konnte es wohl geschehen, dass der Knabe in stilles Schluchzen ausbrach und sein Freund ihn nur schwer zu beruhigen vermochte. Einmal auch sagte er bittend: "Es tut mir weh, Leberecht; spiele nicht so laut!" Der Orgelspieler schob auch sogleich die grossen Register wieder ein und nahm die Floeten- und andere sanfte Stimmen; und suess und ergreifend schwoll das Lieblingslied des Knaben durch die stille Kirche: "Befiehl du deine Wege." Leise mit seiner kraenklichen Stimme hub er an mitzusingen. "Ich will auch spielen lernen", sagte er, als die Orgel schwieg; "willst du mich es lehren, Leberecht?" Der junge Musikus liess seine Hand auf den Kopf des Knaben fallen, und ihm das gelbe Haar streichelnd, erwiderte er: "Werde nur erst recht gesund, Christoph; dann will ich dir es gerne lehren." Aber Christoph war nicht gesund geworden.--Seinem kleinen Sarg folgte neben der Mutter auch der junge Orgelspieler. Sie sprachen hier zum ersten Mal zusammen; und die Mutter erzaehlte ihm jenen dreimal getraeumten Traum von dem kleinen silbernen Erbbecher. "Den Becher", sagte Leberecht, "haette ich Euch geben koennen; mein Vater, der ihn vor Jahren mit vielen andern Dingen von Euerm Bruder erhandelte, hat mir das zierliche Stueck einmal als Weihnachtsgeschenk gegeben." Die Frau brach in die bittersten Klagen aus. "Ach", rief sie immer wieder, "er waere ja gewiss gesund geworden!" Der junge Mann ging eine Weile schweigend neben ihr her. "Den Becher soll unser Christoph dennoch haben", sagte er endlich. Und so geschah es. Nach einigen Tagen hatte er den Becher an einen Sammler solcher Pretiosen um einen guten Preis verhandelt; von dem Geld aber liess er den Denkstein fuer das Grab des kleinen Christoph machen. Er liess eine Marmortafel darin einlegen, auf welcher das Bild des Bechers ausgemeisselt wurde. Darunter standen die Worte eingegraben: "Zur Gesundheit!" Noch viele Jahre hindurch, mochte der Schnee auf dem Grab liegen oder mochte in der Junisonne der Busch mit Rosen ueberschuettet sein, kam oft eine blasse Frau und las andaechtig und sinnend die beiden Worte auf dem Grabstein. Dann eines Sommers ist sie nicht mehr gekommen; aber die Welt ging unbekuemmert ihren Gang. Nur noch einmal, nach vielen Jahren, hat ein sehr alter Mann das Grab besucht, er hat sich den kleinen Denkstein angesehen und eine weisse Rose von dem alten Rosenbusch gebrochen. Das ist der emiritierte Organist von St. Magdalenen gewesen. Aber wir muessen das friedliche Kindergrab verlassen und, wenn der Bericht zu Ende gefuehrt werden soll, drueben in der Stadt noch einen Blick in das alte Erkerhaus der Duesternstrasse werfen. Noch immer stand es schweigend und verschlossen. Waehrend draussen das Leben unablaessig daran vorueberflutete, wucherte drinnen in den eingeschlossenen Raeumen der Schwamm aus den Dielenritzen, loeste sich der Gips an den Decken und stuerzte herab, in einsamen Naechten ein unheimliches Echo ueber Flur und Stiege jagend. Die Kinder, welche an jenem Christabend auf der Strasse gesungen hatten, wohnten jetzt als alte Leute in den Haeusern, oder sie hatten ihr Leben schon abgetan und waren gestorben; die Menschen, die jetzt auf der Gasse gingen, trugen andere Gewaender, und draussen auf dem Vorstadtskirchhof war der schwarze Nummerpfahl auf Frau Ankens namenlosen Grab schon laengst verfault. Da schien eines nachts wieder einmal, wie schon so oft, ueber das Nachbarhaus hinweg der Vollmond in das Erkerfenster des dritten Stockwerks und malte mit seinem blaeulichen Licht die kleinen runden Scheiben auf den Fussboden. Das Zimmer war leer; nur auf dem Kanapee zusammengekauert sass eine kleine Gestalt von der Groesse eines jaehrigen Kindes, aber das Gesicht war alt und baertig und die magere Nase unverhaeltnismaessig gross; auch trug sie eine weit ueber die Ohren fallende Zipfelmuetze und einen langen, augenscheinlich fuer einen ausgewachsenen Mann bestimmten Schlafrock, auf dessen Schoss sie die Fuesse heraufgezogen hatte. Diese Gestalt war Herr Bulemann.--Der Hunger hatte ihn nicht getoetet, aber durch den Mangel an Nahrung war sein Leib verdorrt und eingeschwunden, und so war er im Laufe der Jahre kleiner und kleiner geworden. Mitunter in Vollmondnaechten, wie dieser, war er erwacht und hatte, wenn auch mit immer schwaecherer Kraft, seinen Waechtern zu entrinnen gesucht. War er von den vergeblichen Anstrengungen erschoepft aufs Kanapee gesunken oder zuletzt hinaufgekrochen, und hatte dann der bleierne Schlaf ihn wieder befallen, so streckten Graps und Schnores sich draussen vor der Treppe hin, peitschten mit ihrem Schweif den Boden und horchten, ob Frau Ankens Schaetze neue Wanderzuege von Maeusen in das Haus gelockt haetten. Heute war es anders; die Katzen waren weder im Zimmer noch draussen auf dem Flur. Als das durch das Fenster fallende Mondlicht ueber den Fussboden weg und allmaehlich an der kleinen Gestalt hinaufrueckte, begann sie sich zu regen; die grossen runden Augen oeffneten sich, und Herr Bulemann starrte in das leere Zimmer hinaus. Nach einer Weile rutschte er, die langen Aermel muehsam zurueckschlagend, von dem Canapee herab und schritt langsam der Tuer zu, waehrend die breite Schleppe des Schlafrocks hinter ihm herfegte. Auf den Fussspitzen nach der Klinke greifend, gelang es ihm, die Stubentuer zu oeffnen und draussen bis an das Gelaender der Treppe vorzuschreiten. Eine Weile blieb er keuchend stehen; dann streckte er den Kopf vor und bemuehte sich zu rufen: "Frau Anken, Frau Anken!" Aber seine Stimme war nur wie das Wispern eines kranken Kindes. "Frau Anken, mich hungert; so hoeren Sie doch!" Alles blieb still; nur die Maeuse quieksten jetzt heftig in den unteren Zimmern. Da wurde er zornig. "Hexe, verfluchte, was pfeift Sie denn?" Und ein Schwall unverstaendlich gefluesterter Schimpfworte sprudelte aus seinem Mund, bis ein Stickhusten ihn befiel und seine Zunge laehmte. Draussen, unten an der Haustuer, wurde der schwarze Messingklopfer angeschlagen, dass der Hall bis in die Spitze des Hauses hinaufdrang. Es mochte jener naechtliche Geselle sein, von dem im Anfang dieser Geschichte die Rede gewesen ist. Herr Bulemann hatte sich wieder erholt. "So oeffnen Sie doch!" wisperte er; "es ist der Knabe, der Christoph; er will den Becher holen." Ploetzlich wurden von unten herauf zwischen dem Pfeifen der Maeuse die Spruenge und das Knurren der beiden grossen Katzen vernehmbar. Er schien sich zu besinnen; zum ersten Mal bei seinem Erwachen hatten sie das oberste Stockwerk verlassen und liessen ihn gewaehren.--Hastig, den langen Schlafrock nach sich schleppend, stapfte er in das Zimmer zurueck. Draussen aus der Tiefe der Gasse hoerte er den Waechter rufen. "Ein Mensch, ein Mensch!" murmelte er; "die Nacht ist so lang, so viel Mal bin ich aufgewacht, und noch immer scheint der Mond." Er kletterte auf den Polsterstuhl, der in dem Erkerfenster stand. Emsig arbeitete er mit den kleinen duerren Haenden an dem Fensterhaken; denn drunten auf der mondhellen Gasse hatte er den Waechter stehen sehen. Aber die Haspen waren festgerostet; er bemuehte sich vergebens, sie zu oeffnen. Da sah er den Mann, der eine Weile hinaufgestarrt hatte, in den Schatten der Haeuser zuruecktreten. Ein schwacher Schrei brach aus seinem Mund; zitternd mit geballten Faeusten schlug er gegen die Fensterscheiben; aber seine Kraft reichte nicht aus, sie zu zertruemmern. Nun begann er Bitten und Versprechungen durcheinander zu wispern; allmaehlich, waehrend die Gestalt des unten gehenden Mannes sich immer mehr entfernte, wurde sein Fluestern zu einem erstickten heisern Gekraechze; er wollte seine Schaetze mit ihm teilen, wenn er nur hoeren wollte; er sollte alles haben, er selber wollte nichts, gar nichts fuer sich behalten; nur den Becher, der sei das Eigentum des kleinen Christoph. Aber der Mann ging unten unbekuemmert seinen Gang, und bald war er in einer Nebengasse verschwunden.--Von allen Worten, die Herr Bulemann in jener Nacht gesprochen, ist keines von einer Menschenseele gehoert worden. Endlich nach aller vergeblichen Anstrengung kauerte sich die kleine Gestalt auf dem Polsterstuhl zusammen, rueckte die Zipfelmuetze zurecht und schaute, unverstaendliche Worte murmelnd, in den leeren Nachthimmel hinauf. --- Provided by LoyalBooks.com ---